Algorithmus statt Arzt

So ist ein Bericht über den Kongress „Future Medicine“ im Tagesspiegel vom 8.11.2017 überschrieben - stimmt, denke ich - aber die digitale Medizin wird vielleicht die Spezialisten aber nicht den Facharzt für Allgemeinmedizin ersetzen. Einer der Stars der Veranstaltung war Joel Dudley, ein Genetiker aus den USA. Er berichtete von seiner eigenen Erkrankung - er leidet an Morbus Crohn - aber nicht nur mit Darm- sondern auch mit Hautsymptomen - aber von der Haut wollte der behandelnde Darmspezialist nichts wissen, während der Hautarzt froh war, nichts mit den Darmsymptomen zu tun zu haben. Auf der einen Seite also die Spezialisten - nur ihre Organe im Visier - auf der anderen Seite die moderne, digitale Medizin: „mit dem Blick für den ganzen Menschen“ - der in seine medizinisch messbaren Daten zerlegt wird und dann wieder zu einem großen Ganzen zusammen gesetzt wird. Der hausärztliche Blick auf den „ganzen Menschen“ ist aber anders - und nicht ersetzbar.

 

Das Projekt der digitalen Medizin ist schon beeindruckt - hier werden molekulare Daten gesammelt - also aus dem Genom, den Proteinen oder von Stoffwechselprodukten - dazu dann Informationen über die gemessene Stimmung, den Schlaf und das Immunsystem - dabei entstehen riesige Dateien, die jetzt aber von immer leistungsfähigeren Maschinen in Echtzeit analysiert werden. Nicht zufällig wird das Digital Health Center am Hasso-Plattner-Institut aufgebaut - mit direktem Draht zur Softwareschmiede SAP. Gut so - hier wäre den Datenriesen aus den USA endlich was europäisches entgegen zu setzen. Noch analysieren die meisten Programme aber Daten von anglo-amerikanischen Patienten und entdecken dabei Wichtiges: zum Beispiel dass Altersdiabetes nicht gleich Altersdiabetes ist. Eine Gruppe Menschen mit Alterszucker haben eher Nieren- und Netzhautkrankheiten, eine zweite eher Krebs- und Herzkreislaufkrankheiten und eine dritte eher Gefäßprobleme, Nervenerkrankungen oder Allergien. Wahrscheinlich müsste für jede Gruppe ein passendes Therapieschema gefunden werden - und nicht alle Menschen mit Typ-2-Diabetes über einen Kamm geschoren werden.

Nur - ist der Mensch ein Puzzlespiel und Krankheiten kleine störende Teile, die entfernt oder zugeschnitten werden müssen? Ist der ganze Mensch wirklich nur aus Zellen zusammengesetzt, die gemeinsam ein Ganzes ergeben? Meine Erfahrung als Hausarzt sagt ein entschiedenes Nein. Der ganze Mensch steht immer in einer Beziehung zur Welt, ist immer eingebettet in Situationen, die ihn beschützen oder bedrohen. Zu diesen Situationen verhält sich der Mensch immer mit seinem ganzen Organismus. Dieses „in der Welt sein“ kann mit vielen Begriffen beschrieben und begreifbar gemacht werden - der Neurologe Kurt Goldstein hat dies aus der Erfahrung mit schwer im Krieg Verletzten Menschen erforscht. Der Philosoph Hermann Schmitz hat mit dem Begriff „Leib“ den Blick auf das Ganze gerichtet, während der Körper eher den digitalen Zugriff erlaubt. Der Soziologe Hartmut Rosa hat mit dem Begriff der „Resonanz“ gezeigt, wie Menschen in Situationen sich in ihrer Welt als wirksam erleben und damit lebendig erleben, wenn sie nicht in Situationen stecken, die entfremdend sind und sich immer schneller verändern.

 

Am Institut für Allgemeinmedizin in München gibt es ein erstes Forschungsprojekt zur Resonanzmedizin. Die Ergebnisse dieser Forschung werden der Hausarztmedizin ihre Stärken zeigen. Puzzleteile erkennen und zusammenlegen, das können Computer besser und schneller - und Krankheiten, die in Leitlinien gut beschrieben sind, können in Zukunft besser und sicherer von digitalen Assistenten behandelt werden. Viele Fachärzte werden überflüssig. Hausärzte mit dem Blick für den ganzen Menschen werden dann umso wichtiger. Wenn sie denn lernen, wie sie mit dem ganzen Menschen ins Gespräch kommen. Hier müssen Hausärzte noch viel lernen.

 

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